Allgemein Früheste Versuche von fotografischen Reproduktionen im Österreichischen Staatsarchiv im Jahr 1857

Archivale des Monats Oktober 2019

Vor genau 180 Jahren wurde eine bahnbrechende Erfindung des Franzosen Louis Daguerre der Öffentlichkeit vorgestellt: die Daguerrotypie. Dabei handelte es sich um eine Vorform der Fotografie, weshalb diese Entwicklung auch als Geburt der Fotografie angesehen wird. Schon bald wurde das neue Medium bedeutend weiterentwickelt und auch abseits der Ablichtung von Landschaften und Personen nutzbar gemacht. Die Anwendung der Fotografie als Forschungswerkzeug für die Geschichtswissenschaft war ebenfalls revolutionär, konnte man durch diese neue Technik doch verschiedenste Archivalien mehr oder weniger problemlos reproduzieren und dadurch das Arbeiten mit den Quellen erleichtern.

Dem bekannten Historiker und Paläographen Theodor von Sickel (1826–1908) ist es zu verdanken, dass sich das Haus-, Hof- und Staatsarchiv im Frühling 1857 erstmals mit dem Thema der fotografischen Reproduktion beschäftigen musste. Für den paläographischen Unterricht am damals noch jungen Institut für Österreichische Geschichtsforschung, an dem Sickel seit September 1856 als Dozent wirkte, versuchte er ein entsprechendes Tafelwerk mithilfe der Fotografie anzulegen. Das Projekt hatte vielerlei Hürden zu überwinden, war dann aber schließlich von Erfolg gekrönt und fand unter dem Titel „Monumenta graphica medii aevi“ als Lehrapparat für Paläographie (in 10 Lieferungen, Wien 1858–1882) seine Verbreitung und hat Generationen von Studierenden als Übungsmaterial gedient.

Es bedurfte natürlich im Vorfeld der Beschaffung von passendem Anschauungsmaterial und in diesem Zusammenhang versuchte Sickel mit Unterstützung des Ministeriums für Unterricht und Cultus naheliegender Weise zuerst in Wien an solches zu kommen. Aus diesem Grund wurde über das vorgesetzte Ministerium des Äußern auch beim Haus-, Hof- und Staatsarchiv angefragt und letztlich auch um die fotografische Reproduktion einschlägiger Quellen gebeten. Daraufhin wurden archivintern gemeinsam mit einem Bediensteten der fotografischen Abteilung der Staatsdruckerei praktische Versuche an Originalen über diese Form der Reproduzierung von Archivgut angestellt. Diese waren durchaus von Erfolg gekrönt. Der damalige Archivdirektor Erb äußerte sich nach dieser sehr zufriedenstellend verlaufenen Testphase äußerst positiv gegenüber seiner vorgesetzten Dienststelle. Er hob hervor, dass die Archivalien durch das angewandte Verfahren (Behandlung mit Dunst von destilliertem Wasser, Planlegung mithilfe von Glasplatte und Holzschrauben sowie Ablichtung bei Tageslicht) nachgewiesenermaßen keinen sichtbaren Schaden nehmen würden. Also war man im Haus-, Hof- und Staatsarchiv dem neuen Medium der Fotografie gegenüber durchaus positiv eingestellt und wollte diesem neuen Reproduktionsverfahren vor allem im Rahmen des von Sickel projektierten paläographischen Tafelwerks keine Steine in den Weg legen.[1]

Das vorgesetzte Ministerium des Äußern wollte sich aber offenbar nicht allein auf die sachkundige Meinung seiner Fachabteilung stützen, sondern holte sich weitere Meinungen zum Thema ein.[2] Diese standen dem Einsatz von Fotografie zur Reproduktion von Archivalien ablehnend gegenüber und am Ballhausplatz schenkte man dieser sehr kritischen Sicht auf die Dinge offenbar mehr Glauben, sodass man dem Ministerium für Cultus und Unterricht mit einer Note vom 26.06.1857 die fotografische Reproduktion von Archivalien aus dem Haus-, Hof- und Staatsarchiv für Theodor von Sickel kurzerhand versagte.[3] Damit wurde der Einsatz des neuen Mediums der Fotografie für wissenschaftliche Zwecke im Archivwesen vorerst auf Eis gelegt. Erst 12 Jahre später, als Sickel zum Direktor des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung avanciert war, erlaubte man ihm die Anfertigung von fotografischen Reproduktionen aus dem Archiv.

Nichtsdestoweniger hatte das Haus-, Hof- und Staatsarchiv keine 20 Jahre nach der Veröffentlichung der Fotografie den Weitblick, diese neue Reproduktionsform für die Wissenschaft nutzbar zu machen und so verwundert es auch nicht, dass man im Neubau des Haus-, Hof- und Staatsarchivs an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert bereits ein eigenes Fotoatelier unterbrachte. Im heutigen, digitalen Zeitalter ist die Reproduktion von Archivalien durch die massiv weiterentwickelte Technik der Fotografie mithilfe von digitalen Kameras und Scannern aus dem archivarischen Alltag nicht mehr wegzudenken. Die Chancen, Möglichkeiten und Probleme der fototechnischen Reproduktionen beschäftigen das Österreichische Staatsarchiv also schon seit mehr als 160 Jahren und ein Endpunkt dieser Entwicklungen ist mit Sicherheit noch lange nicht in Sicht.

David Fliri

Signatur: AT-OeStA/HHStA SB Kurrentakten, Karton 42, Zahl 60 ex 1857: Gutachten der Direktion des Haus-, Hof- und Staatsarchivs an das Ministerium des Äußern vom 13.05.1857 (= AT-OeStA/HHStA StK Interiora Archiv 4-2-153).

Literatur:

  • Paul Mechtler, Die Anfänge der Phototechnik im Österreichischen Archivwesen. In: MÖStA 28 (1975) 21–33.
  • Winfried Stelzer, Theodor Sickel und die Fotografie der 1850er Jahre. 150 Jahre „Monumenta graphica medii aevi“, der Fotograf Moritz Lotze (Verona) und Plagiate am letzten Portraitfoto Radetzkys. In: Johannes Gießauf/ Rainer Murauer/ Martin Paul Schennach (Hgg.), Päpste, Privilegien, Provinzen. Beiträge zur Kirchen-, Rechts- und Landesgeschichte. Festschrift für Werner Maleczek zum 65. Geburtstag ( MIÖG-Erg. Bd. 55, Wien/ München 2010) 419–447.

[1] AT-OeStA/HHStA SB Kurrentakten, Karton 42, Zahl 60 ex 1857.

[2] Hier scheinen gewisse Konflikte zwischen dem Ministerium des Innern und dem Ministerium für Cultus und Unterricht wegen der Patronanz des Sickelschen Projekts und eine wohl in diesem Kontext zu sehende Intrige ausschlaggebend gewesen zu sein, vgl. Stelzer, Sickel 424 (insbesondere auch Anm. 32).

[3] AT-OeStA/HHStA SB Kurrentakten, Karton 42, Zahl 127 ex 1857.