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Selbstbehauptung und eingeschränkte Souveränität Archivale des Monats Jänner 2020

Zu Beginn eines neuen Jahrzehnts blicken wir zurück auf 75 Jahre Zweite Republik. Das vorliegende Dokument ist ein anschauliches Beispiel für die schwierigen Anfänge des neuen Österreich. Es stammt aus der Zeit des Hungerwinters 1945/46 und hängt eng mit der Person Leopold Figls zusammen.

Schreiben von Leopold Figl © ÖStA

Knapp nach dem Jahreswechsel von 1945 auf 1946 und somit rund ein Monat nach seiner Angelobung als Bundeskanzler richtete Figl am 18. Jänner 1946 ein Schreiben an den turnusmäßigen Vorsitzenden des Alliierten Rates, den sowjetischen Marschall Ivan S. Konev. Leopold Figl war im März 1938 von den Nationalsozialisten verhaftet und ins KZ Dachau gebracht worden, wo er bis Mai 1943 inhaftiert war. Zwischenzeitlich kurz freigekommen, wurde er im Oktober 1944 neuerlich verhaftet und im November 1944 in den berüchtigten Isoliertrakt des Konzentrationslagers Mauthausen überstellt. Ende Jänner 1945 kam er ins Landesgericht Wien, wo ihm der Prozess vor dem Volksgerichtshof gemacht werden sollte. Bis Ende März fanden Hinrichtungen im Landesgericht statt. Noch Anfang April wurden 40 verurteilte Häftlinge nach Stein gebracht und dort erschossen. Figl hatte Glück. Als die Schlacht um Wien begann und die Sowjettruppen auf die Innenstadt vorrückten, öffneten sich für ihn und seine Mithäftlinge am 6. April 1945 die Gefängnistore. Bereits am 12. April 1945 wurde der frühere Bauernbunddirektor von dem die sowjetischen Truppen kommandierenden Feldmarschall Fedor I. Tolbuchin beauftragt, an der Lebensmittelversorgung der Stadt mitzuwirken. Von diesem Moment an stand Figl voll im politischen Leben: Er wurde erster Landeshauptmann von Niederösterreich, er war der führende Mann bei der Wiederbegründung des Bauernbundes und einer der Gründer der Österreichischen Volkspartei. In der Provisorischen Staatsregierung Karl Renners fungierte er als de facto Vizekanzler und ging als Spitzenkandidat der ÖVP in die ersten Nationalratswahlen vom 25. November 1945. Danach bildete er die erste frei gewählte Bundesregierung, die am 20. Dezember 1945 angelobt wurde.

Österreich war zu diesem Zeitpunkt alles andere als ein souveräner Staat. Dafür ist der vorliegende Brief ein schlagendes Beispiel. Zwar war am 20. Oktober 1945 die Provisorische Staatsregierung von allen vier Besatzungsmächten anerkannt worden, doch kam der Regierung nicht die oberste Regierungsgewalt im Lande zu. Über ihr stand der Alliierte Rat, dem alle Gesetze zur Zustimmung vorgelegt werden mussten. Dies war der Inhalt eines Memorandums der Besatzungsmächte, das der Staatsregierung am 20. Oktober 1945 überreicht wurde. Schon zuvor hatten die Sowjets in ihrer Zone eine gewisse Kontrolle der Gesetzgebung ausgeübt. Sie war jedoch formloser und bot der Regierung ein höheres Maß an Bewegungsfreiheit. Nunmehr bedurften alle Regierungsakte der ausdrücklichen schriftlichen Zustimmung der Besatzungsmächte, bevor sie in Kraft treten konnten. Doch gingen die Einmischungen der Alliierten auch darüber hinaus; besonders deutlich wurde dies, als sie bei der Bildung der ersten Regierung Figl personelle Veränderungen bei deren Zusammensetzung erzwangen. Der Staatsvertragshistoriker Gerald Stourzh hat im Hinblick auf den Beginn der Regierungstätigkeit Figls festgehalten: "Es gehörte zur schweren Bürde des Amtes, das Leopold Figl im Dezember 1945 als erster Kanzler der aus freien Wahlen hervorgegangenen Bundesregierung auf sich nahm, dieses Amt auf dem Höhepunkt weitest gehender alliierter Kontrolle antreten zu müssen."

Die Besatzer nahmen die von ihnen beanspruchte Überwachungs- und Kontrollkompetenz gegenüber der Regierung voll in Anspruch. Davon legt das vorliegende Fallbeispiel ein beredtes Zeugnis ab. Zwar versuchte Figl mit dem ihm eigenen politischen Geschick die Grenzen seiner Regierung auszuloten und zu erweitern, doch im Jänner 1946 musste er klein beigeben. Das wird aus dem vorliegenden Schreiben deutlich.

Es war die Periode der "totalen Kontrolle", wie sie Gerald Stourzh genannt hatte. Sie hatte – paradoxerweise – zeitgleich mit der Anerkennung der Provisorischen Staatsregierung am 20. Oktober 1945 durch alle vier alliierten Mächte begonnen und sollte am 28. Juni 1946 mit dem Inkrafttreten des Zweiten Kontrollabkommens ihr Ende finden.

Helmut Wohnout

Signatur: AdR, BMF GZ.2.895, Verordnung 23.12.1945 Schillinggesetz fol. 1r-v

Literatur: Brigitte Bailer: Widerstand, Opfermythos und die Folgen für die Überlebenden, in: Stefan Karner/Alexander Tschubarjan, (Hg.): "Österreich wiederherstellen." Die Moskauer Deklaration 1943, Wien-Köln-Weimar 2015, 162-173.

Gerald Stourzh: Die Regierung Renner, die Anfänge der Regierung Figl und die Alliierte Kommission für Österreich, September 1945 bis April 1946, in: Archiv für österreichische Geschichte, 125 (1966), 321-342.

Helmut Wohnout: Leopold Figl und das Jahr 1945. Von der Todeszelle auf den Ballhausplatz, St. Pölten-Salzburg-Wien, 2015