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Ein kritischer Moment 1945: Die Bundesverfassung wird wieder in Geltung gesetzt. Archivale des Monats Mai 2020

Im Herbst 2020 begeht die österreichische Bundesverfassung ihr hundertjähriges Bestandsjubiläum. Vor genau 75 Jahren, am 13. Mai 1945, wurde sie von der Provisorischen Staatsregierung der wenige Wochen davor begründeten Zweiten Republik wieder in Geltung gesetzt. Dem vorangegangen waren dramatische Momente des noch jungen Staates.

Ursprünglich wollte Staatskanzler Karl Renner die Tätigkeit der Provisorischen Staatsregierung auf Grundlage der Verfassung von 1920 führen, spielte jedoch auch mit dem Gedanken, als Ausdruck des Neubeginns eine komplett neue Verfassung zu erarbeiten. Doch Adolf Schärf überzeugte Renner davon, dass eine Verfassungsdiskussion zum jetzigen Zeitpunkt den Kommunisten in die Hände spielen würde. So einigten sich SPÖ und ÖVP in logischer Konsequenz darauf, zur Bundesverfassung in der Folge von 1929, also zum letzten zwischen den beiden Lagern vor 1938 erzielten Verfassungskompromiss, zurückzukehren. Das von Ludwig Adamovich sen. ausgearbeitete Verfassungs-Überleitungsgesetz kam am 13. Mai 1945 auf die Tagesordnung der Regierungssitzung (6. Sitzung des Kabinettsrates). Den Kommunisten war mittlerweile klar geworden, dass sie sich mit der Forderung nach einer neuen Verfassung nicht würden durchsetzen können. Doch verlangten sie nun, nach dem Vorbild einiger anderer Staaten wie Polen, Ungarn, Jugoslawien oder der Tschechoslowakei, Übergangsbestimmungen zu beschließen und die endgültige Verfassung einer künftigen konstituierenden Nationalversammlung vorzubehalten. Die KPÖ argumentierte, die Bundesverfassung in der Folge des Jahres 1929 sei Ausdruck des Niedergangs der Demokratie in der Ersten Republik und nur auf Druck der Heimwehr zustande gekommen.

Hätte die von der KPÖ vorgeschlagene Vorgehensweise die Tür für eine mögliche politische Umwälzung geöffnet? Jedenfalls agierte Renner in diesem Moment als Staatskanzler selbstbewusst, um nicht zu sagen autokratisch. Ungeachtet der kommunistischen Einwände erklärte er das Verfassungs-Überleitungsgesetz gemäß dem erforderlichen Einstimmigkeitsprinzip in der Regierung für beschlossen. Die Situation eskalierte. Die Kommunisten widersprachen heftig. Renner beendete die Debatte abrupt: "Dann müssen die Herren die Konsequenzen ziehen. Darum habe ich gesagt: Unterwerfen Sie sich dieser Auffassung oder nicht?" Der Staatskanzler stellte die Kommunisten vor die Alternative: zustimmen oder zurücktreten. Darauf schwiegen sie. Für Renner war somit die Zustimmung gegeben und Österreich kehrte zur letzten von den beiden großen weltanschaulichen Lagern beschlossenen Verfassung zurück.

Bei dieser politischen Auseinandersetzung über die Verfassung war aber – einmal mehr – auch etwas anderes offensichtlich geworden: nämlich, dass die sowjetischen Besatzer in dieser ersten Phase der Zweiten Republik der Provisorischen Staatsregierung einen weiten politischen Handlungsspielraum einräumten. Heute, 75 Jahre nach ihrer Wiederinkraftsetzung steht die Bedeutung der österreichische Verfassung als Grundlage des demokratischen Zusammenlebens außer Streit.

Helmut Wohnout

Signatur:
ÖStA/AdR, BKA-MRP, Kabinettsratsprotokoll Nr. 6 vom 13.5.1945

Literatur:
Schärf, Adolf: Österreichs Erneuerung 1945-1955. Das erste Jahrzehnt der Zweiten Republik, Wien 1955.
Enderle-Burcel, Gertrude – Jeřábek, Rudolf - Kammerhofer, Leopold: Protokolle des Kabinettsrates der Provisorischen Regierung Karl Renner 1945. Band 1, Protokolle des Kabinettsrates 29. April 1945 bis 10. Juli 1945, Horn/Wien 1995, S. 62-92.
Rauscher, Walter: Karl Renner. Ein österreichischer Mythos. Wein 1995.
Wohnout, Helmut: Leopold Figl und das Jahr 1945. Von der Todeszelle auf den Ballhausplatz St. Pölten/Salzburg/Wien 2015.
Mugrauer, Manfred: Die Politik der KPÖ 1945-1955, Göttingen 2020.